Bibelvers der Woche 05/2019

Und darnach sah ich vier Engel stehen auf den vier Ecken der Erde, die hielten die vier Winde der Erde, auf dass kein Wind über die Erde bliese noch über das Meer noch über irgend einen Baum.
Off 7,1

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Vor der Öffnung des siebenten Siegels

Die Offenbarung des Johannes kommt im Religionsunterricht nicht vor und im Gottesdienst auch nicht, abgesehen vielleicht vom letzten Abschnitt, der einen Blick ins Reich Gottes tut, in dem alles Irdische hinter uns liegt. Vor der Heraufkunft des Reichs Gottes stehen in der Johannes-Apokalypse die Geburtswehen, die gleichzeitig der Todeskampf der Alten Welt sind. Die Vorbereitung des Untergangs wird mit der nacheinander erfolgenden Öffnung von sieben Siegeln geschildert. Nach der Öffnung des siebten Siegels wird der Untergang eingeleitet in Stationen, die jeweils durch eine von sieben Posaunen angekündigt wird, von einem Engel geblasen. Der Untergang wird vollzogen durch das Ausgießen von wiederum sieben „Schalen des Zorns“. Drei mal sieben.

Die Johannesapokalypse enthält viele dunkle und auch verstörende Bilder. Der gezogene Vers ist an sich nicht schwer zu lesen. Nach dem Aufbrechen des sechsten Siegels werden diejenigen gekennzeichnet, die bewahrt werden sollen. Die Engel, denen die Kraft zur Vernichtung der Erde gegeben ist, halten inne. 

Für einen Augenblick, vor der Öffnung des siebten Siegels, steht die Welt still, mitten im Sturm.

Nun wird es aber doch rätselhaft. Unter den Stämmen Israels (den Juden also?) gibt es 144.000 solchermaßen Gekennzeichnete, für jeden der namentlich genannten Stämme zwölftausend, siehe Kap 7, 4-8. Daneben gibt es eine unbestimmte Zahl — „eine große Zahl, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern, und Sprachen“ von Menschen, die „aus großer Trübsal kommen und ihre Kleider rein gemacht haben im Blut des Lammes“. Kap 7, 9-17. Sind dies die Christen aus den Völkern? Zwei Heilswege also: einen für Juden und einen für Christen aus den Völkern? 

Schwer zu sagen. In Kap 14 wird die Zahl der durch das Lamm bezeichneten Menschen ebenso mit 144.000 angegeben wie die Zahl der Geretteten aus dem Volk Israel in Kap 7, 4-8. Sie singen vor dem Thron ein neues Lied, das niemand lernen konnte außer ihnen, „die erkauft sind von der Erde“. Das passt nicht recht zur Unbestimmtheit der Anzahl der geretteten Nachfolger Christi aus den Völkern in Kap 7, 9-17. Sind es dieselben 144.000? Also doch nur ein Heilsweg?

Die Zahlenangaben haben ihre eigene Wirkungsgeschichte. Manche Leser der Apokalypse, namentlich die Zeugen Jehovas, interpretieren sie wörtlich. Sie müssen in meinen Augen symbolisch gelesen werden: zwölf ist die Zahl der Vollkommenheit und zwölf mal zwölftausend ist eine überhöhte, transzendente Vollkommenheit, ein Kontinuum der Vollkommenheit sozusagen. Die Geretteten haben Teil an der Vollkommenheit — mehr zu wissen ist uns nicht gegeben. 

Wie will man den Vers dieser Woche lesen? Erinnerung an das Ende? Nachricht von der Rettung? Die Stille, die vor beidem liegt? Ich wünsche uns eine gute Woche, in der es uns gelingt, ein Apfelbäumchen zu pflanzen…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2019

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Ps 28,6

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Bitten und Danken

Ein schöner Vers! Der Psalmist, David, hat zu Gott gebetet, offenbar in schwerer Auseinandersetzung oder in großer Gefahr — dies ist der erste Teil des Psalms. Der zweite Teil setzt mit dem gezogenen Vers ein: Davids Gebet wurde erhört, er ist gerettet, er findet seine Lebensfreude wieder, ist fröhlich und stimmt den Lobpreis an:

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Der HErr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied.

Ps 28, 6+7

Der Vers der Woche ist die „Wende“ im Psalm. Wer diesen Vers zieht, kann sich erst einmal fragen, ob er selbst nicht Grund hat, dem Herrn zu danken, oder er kann den Vers als entsprechenden Hinweis betrachten. Er könnte sich gar entschließen, sich und seine Sache als gerettet zu erleben, selbst wenn die Signale aus der Umwelt nicht eindeutig sind. Was dem Betenden Kraft verleiht und den Umschwung bewirkt, ist ja das Vertrauen in den Herrn: „auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen“. 

Schließlich könnte er sich fragen, wie der Dank denn aussehen kann. In einer Reziprozitätsbeziehung ist „Danke!“ ja keine bloße Floskel. Der Dankende bekennt den Wert des Empfangenen und äußert gleichzeitig die Bereitschaft, bei entsprechender Gelegenheit seinerseits zu helfen. Bezogen auf Gott gab es eine festehende Form dafür: das Dankopfer. In diesem Psalm Davids aber tritt an die Stelle des Dankopfers in Vers 7 das Lied. In Psalm 69 singt David, ebenfalls nach schwerer Anfechtung: 

Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied und will ihn hoch ehren mit Dank. 
Das wird dem HERRN besser gefallen als ein Stier, der Hörner und Klauen hat.
Ps 69 32f

Wer dem Herrn danken kann, gar mit einem Lied, nimmt die positiven, manchmal unerwarteten Wendungen in seinem Leben wahr und lässt sie in seine Weltsicht einfließen. Der Dankende betritt seelisch einen neuen Raum und verlässt den Krisenmodus. Wir verkümmern, wenn wir nur klagen und bitten, also im ersten Teil des Psalms stecken bleiben.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Grund finden, Gott zu danken, und ein Lied dazu.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2019

Zu der Zeit war Moses geboren, und war ein feines Kind vor Gott und ward drei Monate ernährt in seines Vaters Hause.
Apg 7,20

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Stephanus vor dem Sanhedrin, Beit Gemal, Israel

Stephanus Rede

Ein eigentümliches Dokument: Apg 7 ist eine Zusammenfassung wichtiger Teile der biblischen Geschichte im Neuen Testament, gut und anschaulich geschrieben. Wie kommt es dazu? Stephanus, Judenchrist der ersten Stunde, wortgewaltiger und wundertätiger Missionar, wird in Jerusalem vor dem Hohen Rat der Häresie angeklagt. Auf die Frage des Hohepriesters „Ist das so?“ hält er eine Rede. Mit einer Wiedergabe der biblischen Geschichte bis zu den Propheten legt er dar, dass diese zwar, nach dem Willen Gottes, eine Heilsgeschichte ist, dieses Heil aber von den Erwählten wieder und wieder abgelehnt wird. Und nun sei der Träger des Heils, Jesus nämlich, ermordet und die Wahrheit werde verfolgt. Dies ist sehr genau gezielt — sind es doch die Pharisäer selbst, die die biblische Geschichte als Geschichte des Ungehorsams werten. Die Mitglieder des Hohen Rats geraten außer sich. Stephanus aber sieht, wie der Himmel über ihm sich öffnet und bekennt Jesus Christus. Er wird gesteinigt. Ein junger Mann, ein gewisser Saulus, beobachtet interessiert die Hinrichtung.

Der gezogene Vers führt den zentralen Heilsträger der jüdischen Geschichte, Moses, in Stephanus Erzählung ein. Stephanus tut das sehr knapp: Moses war ein „feines Kind“ vor Gott und blieb bei seinen Eltern drei Monate; er war also von Gott erwählt und ein echter Sohn seines Volks, nicht etwa ein Ägypter, wie man seines Namens und der Erziehung am Hof des Pharao wegen hätte meinen können.

Am Freitag bin ich Stephanus begegnet. Meine Tochter Mathilde und ich sind von einem israelischen Freund auf eine kleine Tour durch das Gebirge östlich von Beit Schemesch genommen worden. Einer der Orte, die wir sahen, war Beit Gemal. Dort steht heute ein italienisches Salesianerkloster an der Stelle, wo nach jüdischer und christlicher Tradition bereits im fünften Jahrhundert das Grab von Stephanus, Nikodemus und Gamaliel vermutet wurde. Gamaliel war gemäßigter Pharisäer, Gelehrter, Mitglied des Sanhedrin, Lehrer des Paulus und Mann des Ausgleichs (siehe Apg 5). Nikodemus, ebenfalls Pharisäer und Mitglied des Hohen Rats, wird im Johnannesevangelium mal als versteckter, mal als offener Sympathisant Jesu beschrieben. Hier und oben sind Bilder von Fresken, die Stephanus’ Befragung vor dem Hohen Rat und die nachfolgende Steinigung zeigen.

Stephans wird gesteinigt, Beit Gemal, Israel.

Den Vers dieser Woche hatte ich versehentlich schon vor dem Jahreswechsel gezogen und dann aufgehoben für eine Gelegenheit, bei der ich keine reguläre Ziehung vornehmen konnte. Dies war in der vergangenen Woche der Fall. Umso erstaunlicher für mich die unvermittelte Begegnung mit dem Heiligen und den beiden Pharisäern, die nicht in die Schublade passen — mein Freund hatte mir nicht erzählt, was es mit dem Ort auf sich hatte, und er wusste seinerseits nichts vom Bibelvers der Woche.

Ich schreibe diese Zeilen im Flugzeug von Jerusalem nach Frankfurt. Das Flugzeug setzt zur Landung an. Was tun mit diesem schönen Vers? Moses war ein feines Kind vor Gott — „Dieser ist’s, der in der Gemeinde in der Wüste stand zwischen dem Engel, der mit ihm redete auf dem Berg Sinai, und unseren Vätern. Er empfing Worte des Lebens, um sie an uns weiterzugeben“ sagt Stephanus (Apg 7,38f). Ohne Moses sind Stephanus, Gamaliel, Paulus und Jesus selbst nicht denkbar. Stephanus weiß das sehr gut, kurz vor seinem Tod. Als Geschenk habe ich von dem Salesianerkloster eine Bibel in hebräischer Sprache mitgenommen, Altes und Neues Testament in einem Band… 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2019

Also regierte David über das ganze Israel und handhabte Gericht und Gerechtigkeit allem seinem Volk
1.Ch 18,14

Hier ist ein Link für den Kontext, in der Übersetzung von 2017.

Der Höhepunkt

Diesen Bibelvers der Woche verschicke ich aus Jerusalem, der Stadt, die David groß gemacht hat, in den beiden Bedeutungen, die dieser Satz haben kann. Überall hier stößt man hier auf den Namen dieses sagenhaften Königs, der das Nordreich und das Südreich in Personalunion beherrscht hat und die Grenzen des von Israeliten beherrschten Gebiets in alle Richtungen erweitert hat — „du stellst meine Füße auf weiten Raum…“ Eine kurze Zeit lang sind die Gegensätze und die Gefahren, von denen das Leben der Israeliten bestimmt wird, aufgehoben und unbedeutend geworden. David schafft die Voraussetzungen für den Bau des Tempels, die physische Manifestation der Einheit von Volk, Gott und politischer Herrschaft. 

Diese Zeit stellt für die jüdische Religion und für das Judentum als kulturelle Entität einen Fixpunkt dar, aus dem heraus sich das Vorher und das Nachher interpretieren lassen. Ein Fixpunkt, der in der Vergangenheit liegt. Ein anderer  Fixpunkt liegt in der Zukunft — die Herabkunft des Messias und das Gottesreich, das er aufrichten soll. Diese beiden Fixpunkte haben große strukturelle Ähnlichkeit: Für viele Juden ist David und seine Herrschaft Modell und Vorläufer für die messianische Zeit. 

Der Text um den Vers herum macht alles klar, alles sicher, alles unerschütterlich. Die Geschichte könnte hier ein Ende finden. Das tut sie nicht — ideelle Fixpunkte stehen fest nur als Konzepte; was immer der Zeit unterliegt, ist endlich. Vom ausgedehnten Großreich Davids und Salomos wurde bislang keinerlei außerbiblische historische oder archäologische Evidenz gefunden. David als historische Person muss man sich vielleicht eher als Fürsten von Juda vorstellen. Das Großreich wäre nicht in der Zeit verschwunden, sondern nie dagewesen. Aber ändert das etwas an der Bedeutung, die dieses Reich als ideeller Fixpunkt hat? 

Zeit und Ewigkeit—man ist gewohnt, sich Ewigkeit als Fortführung der Zeit ad infinitum vorzustellen. Aber vielleicht ist es stattdessen ein Gegensatzpaar? Sich ergänzend?

Wir können gelassener sein, wenn wir unsere Fixpunkte kennen und — in unserer Zeit — mit ihnen leben lernen.
Ulf von Kalckreuth