Bibelvers der Woche 39/2019

…und das ganze Naphthali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer gegen Abend.
Dtn 34,2 

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Klarsicht

Der Vers steht im letzten Abschnitt der Thora. Die Reise des Volks Israel durch die Wüste ist zu Ende. Und mit ihr auch die Reise Mose, der die Israeliten leitete — Mose stirbt. Vorher spricht Gott noch einmal mit ihm. Es ist eine sehr intime Begegnung, wie ein Abschied. Gott führt ihn auf den Berg Nebo, noch jenseits des Jordan, und zeigt ihm das ganze verheißene Land, „bis an das Meer gegen Abend“.

Ich stelle mir das Licht vor, und vielleicht liegt eine Melodie in der Luft, während sich das Heilige Land in überirdischer Klarheit auf dem Berg vor Mose Augen entfaltet. 

Mose darf es sehen, aber er darf es nicht betreten. Warum nicht? Am Haderwasser, in einer kritischen Situation, angefeindet vom ganzen Volk, hatte es ihm an Glauben, Vertrauen und Ehrfurcht gemangelt. Diese Geschichte in Deu 20 schließt unmittelbar an die verzweifelte Lage an, von der unser Vers vor zwei Wochen (Woche 37) berichtet. Das Volk brüllt nach Wasser. Aber statt, wie von Gott befohlen, mit dem Felsen zu sprechen, ihn mit Worten im Namen Gottes aufzufordern, sein Wasser zu geben, schlägt Mose mit dem Stab dagegen, und was er dabei sagt, ist anmaßend und hat mit dem Lob Gottes nichts zu tun. Mit seiner Fassung verliert Mose die Demut, die Angst macht ihn überheblich. 

Wer wird bestehen? Das Urteil, das der Herr schon vorher über das ganze Volk verhängt hatte, trifft jetzt auch Mose selbst: er soll das Heilige Land nicht betreten dürfen. 

Aber schauen darf er es. Wofür er vierzig Jahre lang gekämpft hat, ohne es doch jemals zu sehen, was er in seinem Herzen herumgetragen hat eine so lange Zeit in der Wüste und gegen Anfeindungen verteidigt hat, dies wird nun vor seinen Augen Wirklichkeit, ersteht vor ihm in einer grandiosen Schau. Der Herr ist mit ihm in seinen letzten Stunden. Mose sieht weiter und tiefer, sieht Dinge, die wir sonst nicht sehen können.

Das erinnert an das Ende von Faust II. Auch Goethe kannte die Bibel. Am Ende seines Lebens dringt Faust zu einer Realität oberhalb der Wirklichkeit durch, so jedenfalls habe ich es immer gelesen. Was er sieht, ist echt, obwohl es im Bezugssystem unserer Welt ein Trugbild ist.

Klarsicht oberhalb und jenseits unserer Wirklichkeit, diese Wirklichkeit durchdringend. Solche Momente wünsche ich uns, wenn nicht in dieser Woche, so doch wenigstens einmal im Leben,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2018

…der Brief, den ihr uns zugeschickt habt, ist deutlich vor mir gelesen.
Esr 4,18

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Drei Könige und zwei Briefwechsel

Das sprichwörtliche Gesetz der Meder und Perser: niemand kann es aufheben, selbst derjenige nicht, von dem es ausgeht. So kann man es bei Daniel 6 nachlesen. Und wenn sich das Gesetz widerspricht? 

Der persische König Kyros hatte das babylonische Reich zerschlagen und erlaubte dann den Juden, aus ihrem Exil heimzukehren und ihren Tempel wieder aufzubauen. Er gab ihnen zu diesem Zweck sogar das von den Babyloniern geraubte Tempelgold zurück. 

Soweit die Überschrift — sozusagen der Vorstandsbeschluss. Aber ein solcher Beschluss allein bewegt noch nichts. Schnell ist zwar ein Brandopferaltar gebaut, doch als die Juden Anstalten machen, tatsächlich einen Tempelbau in Angriff zu nehmen, sieht die Linie Probleme. Ein Tempel ist ein großes Bauwerk, ein zentraler Ort fürs Volk, und er braucht eine Stadtmauer. Beides gemeinsam würde Jerusalem wieder zum Machtfaktor machen und Unruhe schaffen. Als Kyros gestorben ist, schreibt Rehum, der Oberbefehlshaber der Truppen in Samarien im Namen der regionalen Administration einen Brief an Artaxerxes, einen der Nachfolger von Kyros, und erinnerte ihn daran, wie aufsässig die Stadt einst war. In den Chroniken sei es nachzulesen. Der König möge den Bau unterbinden.

Die Antwort kommt prompt. Man habe den Brief genau gelesen (das ist der gezogene Vers), die Angelegenheit geprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Anliegen berechtigt sei: der Bau müsse gestoppt werden. Bis weitere Befehle folgen.

An dieser Stelle könnte es zu Ende sein. Das ist das Schicksal vieler Projekte, selbst wenn sie grünes Licht von ganz oben haben: sie müssen in der Ebene durchgesetzt werden, und dort kostet ihre Realisierung die aktuell Mächtigen das, was sie nicht aufgeben wollen: Macht. 

Aber die jüdischen Organisatoren des Baus, Serubabbel und Jeschua, haben einen langen Atem. Sie stellen sich gut mit der lokalen Regierung. Für diese ist die Situation unangenehm: es gibt einen Befehl von Kyros, zu bauen, und einen Befehl von Artaxerxes, zu warten. Als die Zeit reif ist, d.h. noch eine Regentschaft später, schreiben Tattenai, der Statthalter Babylons, und seine Beamten ihrerseits einen Brief an Darius, den Nachfolger von Artaxerxes, und erinnern den König an die Erlaubnis, die sein Vorvorgänger gegeben hat. Und fügen ein zweischneidiges Argument hinzu: Kyros habe den Juden ja bereits eine große Menge Goldes gegeben, um die Planungen umzusetzen! Das appelliert an das Bedürfnis der persischen Macht, überzeitliche Konsistenz im Regierungshandeln herzustellen. Der Adressat könnte es aber auch als Einladung verstehen, das erste Edikt zu bekräftigen und das Tempelgold einzuziehen. 

Aber das Gambit gelingt. Auch Darius lässt die Archive prüfen. Auch die Aussage Tettais wird bestätigt. Darius muss sich zwischen zwei Inkonsistenzen entscheiden. Und er befiehlt, dass weitergebaut werden soll. 

Zwei Briefe mit gegenteiligen Anliegen, beide faktisch korrekt begründet, beides jeweils durch die Archive geprüft und belegt. Ganz nebenbei: hier präsentiert sich eine voll ausgebildete Schriftkultur, zu einem Zeitpunkt der uns früh erscheinen mag: Xerxes regierte zwischen 465 und 424 vor Christus. 

Am Ende, nach mehreren Regierungswechseln, wird das Gesetz der Meder und Perser aufgehoben, um dem Gesetz der Meder und Perser Geltung zu verschaffen. Mit Gottes Hilfe und mit sehr langem Atem kann es gelingen, der Bürokratie in die Speichen zu greifen. 

Und am Ende steht der Tempel wieder da!

Ich wünsche uns eine Woche mit langem Atem! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2018

Und die Kinder Israel sprachen zu Mose: Siehe, wir verderben und kommen um; wir werden alle vertilgt und kommen um.
Num 17,27

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017. 

Furcht vor Gott

Für diesen Bibelvers gibt es einen engeren Kontext und einen weiteren. Im engeren geht es um den Konflikt zweier rivalisierender Eliten, die das Priestertum und die Führungsrolle unter den Leviten beanspruchen: die Kohaniter und die Korachiter. Die Kohaniter führen sich auf Aaron zurück, den Bruder Mose, und im Jerusalemer Tempeldienst stellen sie die Priesterkaste — andere Leviten durften nur niedere Dienste verrichten. Die Korachiter — „die Rotte Korach“ — tauchen auch später noch als Lyriker und Musiker auf, im Buch der Psalmen werden sie immer wieder genannt. Der Abschnitt erzählt, wie Gott in den Konflikt zwischen den beiden Gruppen in brutaler Weise eingreift und ihn für die Kohaniter entscheidet. 

Von dem Streit wird an einer Stelle berichtet, in der es zu einer Krise im Zusammenleben des in der Wüste wandernden Volks mit ihrem Gott gekommen war. Das ist der weitere Kontext. Die „Langfassung“ des Aufschreis des Volks könnte wie folgt lauten:

„Mose, was sollen wir tun? Die Kundschafter sind aus dem Geloben Land zurückgekommen und hatten schreckliche Neuigkeiten: Das Land starrt vor Waffen und seine Einwohner sind unbesiegbar. Wir können nicht sehenden Auges ins Verderben rennen. Und unser Gott, der uns herausgeführt hat aus Ägypten, sagt uns, dass wir alle, jeder einzelne von uns, verrotten sollen in der Wüste, dass keiner das Land sehen wird, erst unsere Nachkommen sollen dorthin gelangen. Wir wurden furchtbar geschlagen, als wir dennoch den Angriff wagten. Und dann tat sich die Erde auf und verschlang die Korachiter, 150 Mann, unsere Vorbeter, Sänger, und Musiker, sie sind in eine glühende Felsspalte gefallen. Und als wir dann schrieen in Zorn und Angst, brachte Gott die schreckliche Pest über uns, die in Windeseile über vierzehntausend von uns hinwegraffte! Wir sind hier in der Steinwüste,  haben alles verloren, wissen nicht wohin, wir sind verurteilt, hier zu sterben. Mose, Gott tötet uns!!“

Da fällt einem vieles ein. Krieg, Vertreibung, Erdbeben, Krankheit, Tod. Die Zerstörung Lissabons im Jahr 1755 hat unauslöschliche Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen: es fiel vielen schwer, danach noch an einen gütigen Gott zu glauben. 

Und wie kann man denn angstfrei sein vor Gott? Diese Welt ist sein Werk. Sie ist das Interface, über das er mit uns spricht. Man muss man ihm also all dasjenige zutrauen, was diese Welt an Martern zu bieten hat, und das ist eine ganze Menge. Das Alte Testament ist nicht sparsam darin, Gewaltakte des Höchsten zu beschrieben: die Sintflut, die Zerstörung Sodoms, die schreckliche Bestrafung der Ägypter, der Babylonier, immer wieder auch des eigenen auserwählten Volks, der furchtbare Genozid an den Völkern in Kanaan. Und die in den Prophetien des Alten wie des Neuen Testaments manifestierten Erwartungen übersteigern diese Bilder noch!

Mich überfordert dieser Vers. Luther hat der Frage, wie man einen gnädigen Gott bekommt, sein Leben gewidmet. Ich bin kein Theologe, und hier braucht es mehr als Theologie. Aber ich habe diesen Vers gezogen, also will ich mich stellen!

Die Frage, die der Vers stellt, ist so groß, dass es mehrere Antworten gibt, und vielleicht ist keine davon stets und immer gültig. Die erste Antwort folgt in den darauf folgenden Abschnitten. Der Herr gibt dem Volk über Moses seine Regeln (hier: die des Tempeldiensts), und wer sich daran hält, hat nichts befürchten. Das ist eine (!) klassische Antwort des Judentums. Eine zweite Antwort gibt Psalm 91: „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Das Grauen wütet in der Welt, aber es trifft nicht die, die unter Gottes besonderem Schutz, die mit ihm im Bund stehen. Eine dritte Antwort gibt Num 14, wo die Israeliten verurteilt werden, Zeit ihres Lebens in der Wüste zu bleiben. Gott hat sich geäußert, wir kennen ihn, er ist keine blinde Naturgewalt. Im Gespräch mit Gott erinnert Mose ihn daran, wie er selbst sich vorgestellt hat: »Der HERR ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung« Die Christen können auf Jesus vertrauen, der uns in Gott den gütigen Vater zeigt. Eine vierte Antwort steckt im gezogenen Vers selbst: Ja, so ist es. Das Leben ist Verzweiflung, die Entfernung zu Gott ist nicht zu überbrücken, das Ende ist Dunkelheit und es gibt kein Entrinnen. So sagt es Psalm 88, ein Psalm der Korachiter übrigens, und als Möglichkeit scheint diese Antwort in vielen anderen Stellen der Bibel auf. Diese Antwort ist ernst zu nehmen und wert bedacht zu werden, sie bleibt stets bestehen, und sei es als Referenz.

Eine fünfte Antwort steckt in den Lobpreispsalmen und in Hiob: Die Welt ist, wie sie ist, aber Gott ist so unermesslich groß, dass sie bedeutungslos wird. Liebhaber der Mathematik können an eine Folge denken, die den Nenner gegen unendlich gehen lässt und jeden noch so großen Zähler ins Nichts wirft. In Gottes Größe ist die Welt aufgehoben. Wir verstehen nicht warum, aber in Gott ist die Welt gut. Diese Antwort kenne ich von Juden, es ist aber, so glaube ich, auch die Antwort, die Jesus uns gibt, wenn er im Leiden der Welt auf das Reich Gottes verweist. Das Reich Gottes ist nirgendwo und nirgendwann, es ist in Gott selbst, in dem das Leid der Welt aufgehoben und bedeutungslos ist. Das Reich Gottes anzunehmen, wirft Licht bereits in diese Welt. Eine Christin sagte mir einst, sie denke an Gott, wenn die Sorgen zu groß werden. Das hilft wirklich, und das fast augenblicklich, es hilft immer, wenn ich daran denke, es zu tun!

Ich denke über den Vers und mögliche Antworten nach, während ich schwimme. Es ist ein strahlender Frühherbsttag im Freibad. Ich bin ein guter Schwimmer, eine um die andere Bahn lege ich zurück und denke dabei an Luther, den Tod, der uns alle erwartet, an die Gesetzlichkeit, die Gnade. Mein Kopf ist unter Wasser, ich schaue nach unten, wo auf dem Metall des Beckenbodens die Reflexe der Wellen tanzen und sehe die Blasen aufsteigen, die ich mit meinen Kraulzügen nach unten drücke. Mit jedem vierten Zug drehe ich den ganzen Körper nach rechts, wende mein Gesicht in den blendendblauen Himmel und atme tief. Das Wasser trägt mich und meinen beschädigten Rücken, der Rhythmus, die Kraft und das Licht schaffen eine eigene Welt, der Moment ist unbeschreiblich schön.

Da erkenne ich, dass Angst falsch ist. Obwohl es Gründe genug dafür gibt. Wasser kann tödlich sein — vielleicht nicht im Hausener Freibad, aber an vielen anderen Orten, wo ich schon geschwommen bin. Aber sich zu ängstigen, ist dem Leben nicht dienlich. Beim Schwimmen würde ich sofort den Rhythmus verlieren, und wenn die Angst zu Panik wird, kann ich sogar ertrinken.

Angst ist falsch. Obwohl das Urteil steht. Das Leben reibt unsere Leiber auf, unausweichlich, und auf dieser Welt bleibt uns nichts. Das steht so fest, dass es befreiend wirken mag: wenn es keine Alternative gibt, hat die Angst ihren Hebel, ihren Anspruch verloren! Jetzt, in diesem Moment, trägt mich das Wasser, trägt mich der Herr. Nur das zählt. Vielleicht ist es dies, was Jesus uns mit dem Gleichnis von den Lilien auf dem Feld sagen will.

Was könnte ein Israelit sich damals gedacht haben, wenn er nachts aus dem Zelt blickte, in das Sternenmeer im schwarzen Himmel über der Wüste? Was denken Sie?

Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Gnade, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2018

Und er suchte und hob am Ältesten an bis auf den Jüngsten; da fand sich der Becher in Benjamins Sack.
Gen 44,12

Und hier ist ein Link für den Kontext, zur Lutherbibel 2017

Vergeben

Den „Bibelvers der Woche“ gibt es nun seit etwa anderthalb Jahren. Anfangs standen die zufällig gezogenen Verse gänzlich zusammenhanglos nebeneinander. Nun scheinen sie gelegentlich miteinander zu sprechen. Ein Beispiel gab es in der vergangenen Woche, ein anderes waren die beiden Verse aus unterschiedlichen Paulusbriefen, die mit derselben Reise nach Jerusalem zu tun hatten. Und der heute gezogene Vers „spricht“ direkt mit dem Vers aus Woche 26/2018, Ende Juni, aus der Jakobsgeschichte: Laban und Jakob stehen sich in einem dramatischen Finale gegenüber — Laban hat Jakobs Zelt nach Diebesgut durchsucht und nichts gefunden.

Der für heute gezogene Vers ist aus der Josefsgeschichte. Diese erstreckt sich über 10 Kapitel, für Thomas Mann bot sie Stoff für einen vierbändigen Roman. Josef ist Wahrträumer, er versteht sich aber auch auf die Deutung der Träume anderer. Mit dem Bewusstsein der eigenen Herausgehobenheit und weil sein Vater Jakob ihm besonders zugeneigt ist, erregt er den Neid seiner Brüder. Sie werfen ihn in eine Zisterne und verkaufen ihn als Sklaven nach Ägypten. Seine Kunst als Traumdeuter bringt ihn nach einiger Zeit vor den Pharao. Josef deutet dessen Traum (sieben Kühe, sieben Ähren…) und bekommt den Auftrag, die Folgen der kommenden Hungersnot zu lindern. Damit wird er in Ägypten zum mächtigen Vizekönig.

Die Hungersnot führt seine Brüder aus Kanaan nach Ägypten. Sie wollen dort von dem unter Josef eingelagerten Getreide kaufen. Josef gibt sich nicht zu erkennen und schickt die Brüder mit Getreide wieder nach Haus, behält aber Simeon als Geisel. Er verlangt, dass bei der zweiten Reise auch Benjamin mitkomme. Dieser ist der Lieblingssohn des Vaters, wie Josef selbst ein Sohn Jakobs mit Rahel, der Liebe seines Lebens. Auch beim zweiten Mal erhalten die Brüder Getreide, aber wieder werden sie nach Hause geschickt. 

Im Sack von Benjamin lässt Josef einen silbernen Becher verstecken. Als die Brüder sich mit ihren Eseln auf den Rückweg gemacht hatten, schickt Josef seinen Majordomus hinter ihnen her und lässt sie bezichtigen: ein silberner Becher fehlt! Die Brüder schwören, dass derjenige sterben soll, bei dem er gefunden werde, und alle anderen sollen Josefs Sklaven sein. Der Haushälter sagt, es genüge, wenn derjenige Sklave wird, der den Becher genommen hat, die anderen sind frei. Nun kommt der gezogene Vers: der Becher wird bei Benjamin gefunden!

Wie bei Jakob und Laban ist die Suche nach Diebesgut hier Ausdruck und gleichzeitig Wendepunkt einer völligen Zerrüttung. Beide Male schwören die Beschuldigten, dass derjenige sterben soll, bei dem das Diebesgut gefunden wird. Es gibt auch sprechende Unterschiede: Bei Jakob wurde tatsächlich gestohlen, aber nichts gefunden. Bei Josef hingegen wurde nichts gestohlen, aber es wird etwas gefunden. Vorher verzichtet klug der Majordomus darauf, das tödliche Gelübde der Brüder anzunehmen: die Strafe könnte nicht umgesetzt werden.  

Den Brüdern müssen die Ohren geklungen haben, als der Majordomus ihre Habe durchsuchte. Sie alle (und Josef) waren ja dabei, als Laban seinerzeit Jakobs Zelt durchforsten ließ. Und nun müssen sie gedemütigt mit ihren Eseln dem Haushälter zurück in die Stadt folgen, zu dem fremden Machthaber und seinem Gerichtsspruch. Bei der dritten Begegnung in Josefs Palast bittet Juda, dass er selbst anstelle von Benjamin Sklave sein möge. Es wäre sonst zu viel für den Vater. Josef ist zu Tränen gerührt und gibt sich den Brüdern zu erkennen.

Warum nicht gleich? Warum das „retardierende Moment“, mit den zwei Reisen, dem untergeschobenen Becher und der Durchsuchung? Dramaturgisch wird hier ein bereits eingeführtes Motiv genutzt und variiert, wie in Filmen, bei denen einem bestimmten Motiv (Liebe, Kampf, Mord) je eigene musikalische Themen zugeordnet sind. In der Erzählung kann Josef damit seine bereits beträchtliche Überlegenheit noch steigern: er hat die wirtschaftliche Macht, er hat die physische Macht, und der „Diebstahl“ gibt ihm nun auch die moralische Macht, verbunden mit einer Richterrolle. Vergebung setzt voraus, dass man auch anders verfahren kann — aus einer Position der Unterdrückung heraus ist sie nicht möglich. Vielleicht will er sehen, wie die Brüder mit Benjamin verfahren. Dessen Rolle in der Brüderschar ist der von Josef recht ähnlich. Vielleicht aber kennt Josef selbst noch nicht das Ende, als er den Becher verstecken lässt.

Unter Tränen interpretiert Josef das Geschehene als eine Fügung Gottes. Die Brüder sollen sich über ihren Anschlag nicht grämen: zu dem brutalen Zerwürfnis sei es gekommen, damit Josef in Ägypten die Möglichkeit habe, die Folgen der schrecklichen Hungersnot von der Familie in Kanaan abzuwenden. Mit dieser Figur räumt er die Schuld aus der Welt. Welch eine Selbstverleugnung! Josef braucht alle Kraft, derer er habhaft werden kann, um den Abgrund zu überwinden — den zwischen ihm und den Brüdern ebenso wie den Abgrund in sich selbst.

Sich gegenseitig zu durchsuchen, zu filzen, ist die Spitze des Misstrauens. Danach kann eigentlich nichts mehr kommen. Aber in beiden Geschichten steht die entwürdigende Durchsuchung unmittelbar vor einem Akt der radikalen Vergebung durch Verzicht, einseitigem Verzicht. 

Wir beten „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Was genau meinen wir damit? Was ist hier gefordert, und was können wir geben? 

Ich wünsche jedem von uns, dass er oder sie in naher Zukunft einem Schuldiger vergeben kann — vielleicht in dieser Woche?
Ulf von Kalckreuth