Bibelvers der Woche 20/2023

Ach HErr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
Ps 6,2 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ach du, Herr, wie lange!

Wir haben den Beginn des ersten Bußpsalms gezogen. Ich muss eigentlich keine Betrachtung schreiben, das macht der Psalm viel besser und eindrücklicher selbst. 

Ein Psalm Davids, vorzusingen, beim Saitenspiel auf acht Saiten.

Ach HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn
und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
HERR, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;
heile mich, HERR, denn meine Gebeine sind erschrocken
und meine Seele ist sehr erschrocken.
Ach du, HERR, wie lange!

Wende dich, HERR, und errette mich,
hilf mir um deiner Güte willen!
Denn im Tode gedenkt man deiner nicht;
wer wird dir bei den Toten danken?
Ich bin so müde vom Seufzen; /
ich schwemme mein Bett die ganze Nacht
und netze mit meinen Tränen mein Lager.
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram
und matt, weil meiner Bedränger so viele sind.

Weichet von mir, alle Übeltäter;
denn der HERR hört mein Weinen.
Der HERR hört mein Flehen;
mein Gebet nimmt der HERR an.
Es sollen alle meine Feinde zuschanden werden und sehr erschrecken;
sie sollen umkehren und zuschanden werden plötzlich.

Es ist das Gebet eines Menschen, der am Ende ist und weiss, dass nur die Hilfe Gottes ihn retten kann. In ihm und um ihn ist alles dunkel, allein Gott und seine Kraft — als entfernte Möglichkeit — sind hell.

„Ach du, Herr, wie lange!“ So intensiv, so dicht können fünf Worte sein…! 

Ich sehe ein Bild vor mir, und da ich nicht zeichnen oder malen kann, habe ich mich von einer KI unterstützen lassen. Das Ergebnis ist für mich überraschend und anrührend. Ich möchte es Ihnen schenken.

Psalm 6 — Ulf von Kalckreuth mit Dall-E 2, 6. Mai 2023

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 44/2018

Darum seufzt mein Herz über Moab wie Flöten, und über die Leute zu Kir-Heres seufzt mein Herz wie Flöten; denn das Gut, das sie gesammelt, ist zu Grunde gegangen.
Jer 48,36

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Strafe und Heil

Es gibt einen neuen Cluster in den Versen der Woche. In Woche 4/2018 hatten wir einen Vers aus einem „Spruch gegen Moab“ des Propheten Jesaja. In Woche 13/2018 gab es einen Vers von Jeremia, ganz in der Nähe des heute gezogenen, der vom Schicksal der Edomiter handelt. Heute geht es wieder um Moab, diesmal von Jeremiah. 

Die theologischen Literatur hat für solche Texte eine eigene Kategorie: „Fremdvölkersprüche“. Kontext der drei Verse ist die Vernichtung der staatlichen Strukturen in der ganzen Region durch die neubabylonische Okkupation unter Nebukadnezar, die für Juda in der Zerstörung des Tempels und der Wegführung der Elite in ein Exil gipfelte. Aber die Nachbarvölker waren auch betroffen. 

Moab war den Israeliten in Sprache und Kultur eng verwandt, aber ein „alter Feind“. Das Buch Genesis bringt beides recht morgenländisch zum Ausdruck. Demnach stammen die Moabiter ab von Lot, dem Bruder Abrahams. Dies aber in sehr schändlicher Weise: Nachdem Lot und seine beiden Töchter der Vernichtung Sodoms entronnen waren, machen die beiden Frauen in ihrem Wunsch nach Nachkommen ihren Vater betrunken und schlafen mit ihm. Das Ergebnis dieser Verbindung sind die Stammväter der Moabiter und der Ammoniter, einem anderen feindlichen Brudervolk. 

Wie umgehen mit großen Katastrophen?

Im AT, besonders im Buch der Könige und der Chronik, aber auch im Deuteronomium und den damit verbundenen Schriften, werden die Katastrophen in der Geschichte des jüdischen Volks in erster Linie als gerechte Strafe eines eigentlich zugewandten Gotts interpretiert. Die denkbaren Alternativen, dass der Gott Israels den Göttern der Sieger unterlegen sei oder der Bund nicht mehr gelte, werden verworfen. Die Interpretation ist sehr attraktiv: sie erklärt das jeweils Geschehene, vereinbart es mit dem Glauben an den Bund mit einem allmächtigen Gott, und ist nach vorne gewandt: Kehrt das Volk um, so kehrt auch die Gnade zurück. Sie ist Kern der Haltung, mit der die Juden die Zerstörung der staatlichen Strukturen, erst von Israel, dann von Juda, geistig überlebten, im Exil ihre Identität bewahrten und später Staat und Religion neu errichten konnten. Die Sichtweise steckt tief in der DNA der Bibel, auch des Neuen Testaments. 

Diese Sicht hat heute an Bedeutung verloren, auch bei den Juden. Große Katastrophen werden nicht mehr als kollektive Strafen gesehen. Man müsste die jüngere Geschichte sonst so sehen, wie einige ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaften es tun: sie interpretieren den Holocaust mit der Brille des Deuteronomiums als gerechte Strafe für moralische Verfehlungen des jüdischen Volks, insbesondere für Assimilationstendenzen. Die Deutschen als Volk sind in dieser Sicht nicht einmal besonders böse, im Grunde unwichtig, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft war schlicht ein Werkzeug Gottes. Wer aber möchte erwählt sein von einem solchen Gott?

Wenn Katastrophen keine gerechten Strafen sind, der Herr sie aber dennoch geschehen lässt, dann bleibt die Hoffnung auf ein göttliches Heil, das diese Katastrophen auffängt und auflöst, „die Tränen abwischt“. Das ist intellektuell nicht so einfach wie der Verweis auf die strafende Gerechtigkeit. Man muss bereit sein, über Wasser zu gehen und sich auf Dinge zu verlassen, die man nicht sieht. Jesus hat dieses Heil als „Reich Gottes“ bezeichnet, es ist vor uns, neben uns, um uns, in uns. Auch die Hoffnung auf Heil zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel, deutlich erkennbar schon in den Vätergeschichten. 

Die Spannung zwischen diesen beiden Sichtweisen lastet auf dem Vers und kommt in ihm zum Vorschein, wie unter einer dünnen Naht. Jeremia hält der Tradition die Treue. Das Schicksal Moabs ist selbst verschuldet und Ausfluss einer gerechten Strafe. Der Ratschluss des Herrn wird umfangreich zitiert und nicht in Frage gestellt, man liest gar: „Verflucht sei, wer des Herrn Werk lässig tut; verflucht sei, wer sein Schwert aufhält, dass es nicht Blut vergießt!“. Daneben aber steht die Trauer des Propheten. Immer und immer wieder bringt er Entsetzen und Trauer über die Geschehnisse zum Ausdruck. So oft, dass man versteht, dass es zum Kern der Kommunikation gehört. Das feindliche Brudervolk ereilt die gerechte Strafe. In älteren Teilen der Bibel wäre dies neutral oder mit Genugtuung berichtet worden. Hier nicht. 

Der Ratschluss des Herrn — und die Trauer des Propheten. Jeremia geht in den Spagat und muss darin bleiben. Er kann die beiden Pole nicht verbinden, in diesem Text jedenfalls nicht. Hilflose Worte für hilflose Trauer, das ergibt bei ihm ein sehr ungewöhnliches und inniges Bild: 

Darum seufzt mein Herz wie Flöten… 

Ganz am Ende, nach dem blutigen Höhepunkt der Untergangsvision, richtet Jeremia etwas verloren doch noch den Blick auf das Heil, in einem einzigen Satz: „Aber in der letzten Zeit will ich das Geschick Moabs wenden, spricht der HErr. Soweit das Gericht über Moab“.

Im Psalm heißt es: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden“. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir von Katastrophen verschont bleiben.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2018

Und der HErr sprach zu Mose: Wie lange lästert mich dies Volk? und wie lange wollen sie nicht an mich glauben durch allerlei Zeichen, die ich unter ihnen getan habe?
Num 14,11

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Eine abgesagte Verabredung

Das ist ein wenig sonderbar: schon zum dritten Mal in den letzten vier Wochen haben wir einen Vers, der im Umfeld des Streits über den Einzug ins Gelobte Land steht. Num 17 in Woche 37 zeigt die Desorientierung und Verzweiflung, als alle Träume zerstoben waren. Deu 34 in der vergangenen Woche 39 stellt uns Mose vor, der das Land zwar nicht betreten, am Ende aber sehen darf. Und in dieser Woche nun die unmittelbare Reaktion Gottes auf die Weigerung des Volks Israel, aus der Wüste herauszutreten und in das versprochene Land einzuziehen. 

Num 14, 11 in dieser Woche und Num 17, 27 in Woche 37 — Gottes Zorn und der Aufschrei der Menschen. Diese beiden Verse sind einander Spiegelbilder: sie bringen die Fassungslosigkeit mit Hinblick auf das Verhalten des jeweils anderen zum Ausdruck.

Nach zwei Jahren Wanderung war das Volk an einem Punkt, von dem aus die Einnahme des Gelobten Landes möglich wäre. Späher werden ausgesandt und zeichnen ein schreckerregendes Bild der militärischen Stärke seiner Bewohner. Was da bevorstand, war keine friedliche Besiedlung, sondern ein brutaler, von beiden Seiten bis zum äußersten geführter Kampf ums Überleben — das Buch Josua, in dem die viel später doch erfolgende Landnahme beschrieben wird, ist wahrhaftig keine Lektüre für Kinder. Mutlosigkeit macht sich breit, keiner will den entscheidenden Schritt tun.

Das Versprechen Gottes soll eingelöst werden und die Kinder Israels schlagen es aus. Gott wird zornig: dies ist der gezogene Vers. Er will sein Volk vernichten und Moses Nachkommen einem neuen Volk Gottes machen. Wie schon einmal auf dem Sinai. Wieder versucht Mose, dies zu verhindern und erinnert Gott an seine Selbstbeschreibung und die darin enthaltene Gnadenzusage (Vers 17-19). Und wieder nimmt Gott Mose Fürbitte an. Er bestimmt, dass die nächste Generation das Land betreten kann, von den jetzt lebenden aber niemand, mit Ausnahme der beiden Späher Josua und Kaleb, die sich dafür einsetzten, Gott zu vertrauen.

Ist das gnädig? Gottes Verfügung ist ein einfaches „Wer nicht will, der hat schon“. Die Israeliten wollen nicht aus der Wüste heraustreten? Dann sollen sie darin bleiben. Ich werde sie weiter ernähren mit Manna und ihnen vorangehen. Aber das Land werden sie nicht einnehmen, wenn sie nicht bereit sind, den Einsatz zu zahlen. Erst ihre Kinder — wenn diese es denn wollen.

Das ist gnädig, was die generationenübergreifende Identität des Volks betrifft, und konsequent zugleich. Die ungeborenen Kinder auszuschließen wäre nicht richtig gewesen, sie hatten keine Möglichkeit zu antworten. Aber für die lebende Generation gab es eine konkrete Verabredung und sie wurde abgesagt. Manche Gelegenheiten kehren nicht wieder. 

Ich denke, darin ist eine Botschaft auch für einzelne Menschen. Unser Leben ist begrenzt. Manche Fragen, Gelegenheiten, Wegscheiden tauchen immer wieder auf, aber für uns Individuen eben nur abzählbar oft — irgendwann ist Schluss, der Tod zieht einen dicken Strich unter die To-do Liste der nicht eingelösten Verabredungen. Das gehört zu den grundlegenden Spielregeln. Hier hört alle Gnade auf, in dieser Welt jedenfalls. Aber unsere Kinder können später wieder an denselben Wegscheiden stehen. 

Nachdem ich diesen Vers gezogen hatte, fragte ich mich, ob es für mich selbst Verabredungen gibt, die ich schleifen lasse, aus Angst oder Bequemlichkeit. Auf eine bin ich tatsächlich gestoßen. Mal sehen, was sich daraus machen lässt. Der Vers der vorletzten Woche, KW 38, handelt ja von einem Versprechen, das erst mit viel langem Atem in neue Realität verwandelt werden kann…

Eine Woche mit Mut für wichtige Verabredungen wünscht uns allen
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2018

Und die Kinder Israel sprachen zu Mose: Siehe, wir verderben und kommen um; wir werden alle vertilgt und kommen um.
Num 17,27

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017. 

Furcht vor Gott

Für diesen Bibelvers gibt es einen engeren Kontext und einen weiteren. Im engeren geht es um den Konflikt zweier rivalisierender Eliten, die das Priestertum und die Führungsrolle unter den Leviten beanspruchen: die Kohaniter und die Korachiter. Die Kohaniter führen sich auf Aaron zurück, den Bruder Mose, und im Jerusalemer Tempeldienst stellen sie die Priesterkaste — andere Leviten durften nur niedere Dienste verrichten. Die Korachiter — „die Rotte Korach“ — tauchen auch später noch als Lyriker und Musiker auf, im Buch der Psalmen werden sie immer wieder genannt. Der Abschnitt erzählt, wie Gott in den Konflikt zwischen den beiden Gruppen in brutaler Weise eingreift und ihn für die Kohaniter entscheidet. 

Von dem Streit wird an einer Stelle berichtet, in der es zu einer Krise im Zusammenleben des in der Wüste wandernden Volks mit ihrem Gott gekommen war. Das ist der weitere Kontext. Die „Langfassung“ des Aufschreis des Volks könnte wie folgt lauten:

„Mose, was sollen wir tun? Die Kundschafter sind aus dem Geloben Land zurückgekommen und hatten schreckliche Neuigkeiten: Das Land starrt vor Waffen und seine Einwohner sind unbesiegbar. Wir können nicht sehenden Auges ins Verderben rennen. Und unser Gott, der uns herausgeführt hat aus Ägypten, sagt uns, dass wir alle, jeder einzelne von uns, verrotten sollen in der Wüste, dass keiner das Land sehen wird, erst unsere Nachkommen sollen dorthin gelangen. Wir wurden furchtbar geschlagen, als wir dennoch den Angriff wagten. Und dann tat sich die Erde auf und verschlang die Korachiter, 150 Mann, unsere Vorbeter, Sänger, und Musiker, sie sind in eine glühende Felsspalte gefallen. Und als wir dann schrieen in Zorn und Angst, brachte Gott die schreckliche Pest über uns, die in Windeseile über vierzehntausend von uns hinwegraffte! Wir sind hier in der Steinwüste,  haben alles verloren, wissen nicht wohin, wir sind verurteilt, hier zu sterben. Mose, Gott tötet uns!!“

Da fällt einem vieles ein. Krieg, Vertreibung, Erdbeben, Krankheit, Tod. Die Zerstörung Lissabons im Jahr 1755 hat unauslöschliche Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen: es fiel vielen schwer, danach noch an einen gütigen Gott zu glauben. 

Und wie kann man denn angstfrei sein vor Gott? Diese Welt ist sein Werk. Sie ist das Interface, über das er mit uns spricht. Man muss man ihm also all dasjenige zutrauen, was diese Welt an Martern zu bieten hat, und das ist eine ganze Menge. Das Alte Testament ist nicht sparsam darin, Gewaltakte des Höchsten zu beschrieben: die Sintflut, die Zerstörung Sodoms, die schreckliche Bestrafung der Ägypter, der Babylonier, immer wieder auch des eigenen auserwählten Volks, der furchtbare Genozid an den Völkern in Kanaan. Und die in den Prophetien des Alten wie des Neuen Testaments manifestierten Erwartungen übersteigern diese Bilder noch!

Mich überfordert dieser Vers. Luther hat der Frage, wie man einen gnädigen Gott bekommt, sein Leben gewidmet. Ich bin kein Theologe, und hier braucht es mehr als Theologie. Aber ich habe diesen Vers gezogen, also will ich mich stellen!

Die Frage, die der Vers stellt, ist so groß, dass es mehrere Antworten gibt, und vielleicht ist keine davon stets und immer gültig. Die erste Antwort folgt in den darauf folgenden Abschnitten. Der Herr gibt dem Volk über Moses seine Regeln (hier: die des Tempeldiensts), und wer sich daran hält, hat nichts befürchten. Das ist eine (!) klassische Antwort des Judentums. Eine zweite Antwort gibt Psalm 91: „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Das Grauen wütet in der Welt, aber es trifft nicht die, die unter Gottes besonderem Schutz, die mit ihm im Bund stehen. Eine dritte Antwort gibt Num 14, wo die Israeliten verurteilt werden, Zeit ihres Lebens in der Wüste zu bleiben. Gott hat sich geäußert, wir kennen ihn, er ist keine blinde Naturgewalt. Im Gespräch mit Gott erinnert Mose ihn daran, wie er selbst sich vorgestellt hat: »Der HERR ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung« Die Christen können auf Jesus vertrauen, der uns in Gott den gütigen Vater zeigt. Eine vierte Antwort steckt im gezogenen Vers selbst: Ja, so ist es. Das Leben ist Verzweiflung, die Entfernung zu Gott ist nicht zu überbrücken, das Ende ist Dunkelheit und es gibt kein Entrinnen. So sagt es Psalm 88, ein Psalm der Korachiter übrigens, und als Möglichkeit scheint diese Antwort in vielen anderen Stellen der Bibel auf. Diese Antwort ist ernst zu nehmen und wert bedacht zu werden, sie bleibt stets bestehen, und sei es als Referenz.

Eine fünfte Antwort steckt in den Lobpreispsalmen und in Hiob: Die Welt ist, wie sie ist, aber Gott ist so unermesslich groß, dass sie bedeutungslos wird. Liebhaber der Mathematik können an eine Folge denken, die den Nenner gegen unendlich gehen lässt und jeden noch so großen Zähler ins Nichts wirft. In Gottes Größe ist die Welt aufgehoben. Wir verstehen nicht warum, aber in Gott ist die Welt gut. Diese Antwort kenne ich von Juden, es ist aber, so glaube ich, auch die Antwort, die Jesus uns gibt, wenn er im Leiden der Welt auf das Reich Gottes verweist. Das Reich Gottes ist nirgendwo und nirgendwann, es ist in Gott selbst, in dem das Leid der Welt aufgehoben und bedeutungslos ist. Das Reich Gottes anzunehmen, wirft Licht bereits in diese Welt. Eine Christin sagte mir einst, sie denke an Gott, wenn die Sorgen zu groß werden. Das hilft wirklich, und das fast augenblicklich, es hilft immer, wenn ich daran denke, es zu tun!

Ich denke über den Vers und mögliche Antworten nach, während ich schwimme. Es ist ein strahlender Frühherbsttag im Freibad. Ich bin ein guter Schwimmer, eine um die andere Bahn lege ich zurück und denke dabei an Luther, den Tod, der uns alle erwartet, an die Gesetzlichkeit, die Gnade. Mein Kopf ist unter Wasser, ich schaue nach unten, wo auf dem Metall des Beckenbodens die Reflexe der Wellen tanzen und sehe die Blasen aufsteigen, die ich mit meinen Kraulzügen nach unten drücke. Mit jedem vierten Zug drehe ich den ganzen Körper nach rechts, wende mein Gesicht in den blendendblauen Himmel und atme tief. Das Wasser trägt mich und meinen beschädigten Rücken, der Rhythmus, die Kraft und das Licht schaffen eine eigene Welt, der Moment ist unbeschreiblich schön.

Da erkenne ich, dass Angst falsch ist. Obwohl es Gründe genug dafür gibt. Wasser kann tödlich sein — vielleicht nicht im Hausener Freibad, aber an vielen anderen Orten, wo ich schon geschwommen bin. Aber sich zu ängstigen, ist dem Leben nicht dienlich. Beim Schwimmen würde ich sofort den Rhythmus verlieren, und wenn die Angst zu Panik wird, kann ich sogar ertrinken.

Angst ist falsch. Obwohl das Urteil steht. Das Leben reibt unsere Leiber auf, unausweichlich, und auf dieser Welt bleibt uns nichts. Das steht so fest, dass es befreiend wirken mag: wenn es keine Alternative gibt, hat die Angst ihren Hebel, ihren Anspruch verloren! Jetzt, in diesem Moment, trägt mich das Wasser, trägt mich der Herr. Nur das zählt. Vielleicht ist es dies, was Jesus uns mit dem Gleichnis von den Lilien auf dem Feld sagen will.

Was könnte ein Israelit sich damals gedacht haben, wenn er nachts aus dem Zelt blickte, in das Sternenmeer im schwarzen Himmel über der Wüste? Was denken Sie?

Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Gnade, 
Ulf von Kalckreuth